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Kues, Janina

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"El Villar", 06. März bis 12. April 2014
Bolivien ist ein Land, das, man immer wieder besuchen möchte, wenn man einmal da gewesen ist. Ich war jetzt das zweite Mal dort und garantiert werde ich zurückkehren. Allerdings war dies mein erster Aufenthalt, um Zähne zu retten bzw. das zu retten, was noch möglich war.
Insgesamt waren wir - Ekkehard und Jürgen, die beiden Zahnärzte und Eileen und ich (Zahnmedizinstudentinnen) - 5 Wochen dort, die erste und letzte Woche in Sucre und in der Zwischenzeit (3 Wochen) in Tarabuco.
Sucre ist mit ca. 300.000 Einwohnern die konstitutionelle Hauptstadt Boliviens. Eine Stadt, deren Häuser nie fertig zu werden scheinen, weil man mit einem halbfertigen Haus auch nur die Hälfte der Steuern zahlt. Im Vergleich ist es eine kleinere Stadt, in der man sich  innerhalb kürzester Zeit zurechtfinden kann. Zu Fuß ist es oft unbequem durch die schier unendlich erscheinenden Auf und Ab´s der Stadt.
In unserer ersten Arbeitswoche waren wir im "Internado San José". Dies ist eine Art Studentenwohnheim mit Vollpension für Jungen im Alter von 17-25 Jahren. Sie kommen alle aus ländlichen und ärmlichen Verhältnissen und studieren an unterschiedlichen Universitäten. Wir sind sehr herzlich begrüßt worden und auch die ganze Zeit waren alle sehr freundlich und zuvorkommend, sehr nett und dankbar für unseren Besuch.  Das mag auch daran liegen, dass zwei junge Frauen nicht so häufig Zutritt zum Internat haben.
Ich muss gestehen, dass ich Schlimmeres erwartet hatte, was die Zahngesundheit der Jungs angeht. Aber wir haben in der ganzen Woche nur 3 Zähne extrahiert und sonst nur Füllungen und Zahnreinigungen gemacht.
In dieser Woche habe ich das Instrumente-Reinigen für mich entdeckt. Dabei hatte ich immer nette Unterhaltungen und eine Traube Bolivianer um mich herum. Zum einen tauscht man eine Menge kultureller Dinge aus und zum anderen gewöhnt man sich schnell wieder an die Sprache. Das war ein wirklich netter Einsatzbeginn mit liebenswerten Machos, die gleichzeitig Kavaliere der alten Schule sind.
Unsere zweite Arbeitswoche startete mit der Fahrt nach Tarabuco, das ca. 1 Autostunde von Sucre entfernt liegt, mitten in den Bergen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die Stadt mit knapp 3.000 Einwohnern erwacht nur sonntags zum Leben, pünktlich zum Markt! Dort haben wir in einem Hostel gewohnt, das von Alberto und seiner Frau Marlene geleitet wird.
 
In Tarabuco ist es wirklich kalt. Bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von nur 9 °C sind wir ziemlich ins Schlottern gekommen und waren für die Wärmflaschen sehr dankbar. Leider waren wir auch vor der Höhenkrankheit nicht gefeit. Mit knapp 3.300 Höhenmetern sollte man die Wirkung auf den Körper nicht unterschätzen. Sehr gut helfen „Sorotchi- Pillen“, die man am besten schon vorsorglich nehmen sollte. Alternativ soll auch Aspirin in Kombination mit Koffein helfen. Wenn man die Einwohner fragt, dann hilft natürlich Coca kauen, wie bei eigentlich allem.
Unser Nachmittag war nicht allzu produktiv, da wir lediglich ein Gespräch mit dem Krankenhausleiter von Tarabuco hatten, um die Organisation unserer Einsätze in den Comunidades (Dörfer) zu besprechen. Geplant war, dass wir alle 2 Tage in eine andere Comunidad fahren, um dort zu behandeln.
Dieser Plan wurde bereits bei dem Gespräch reduziert, da wir die letzte Woche in Tarabuco behandeln wollten. Die Idee war an sich ganz gut, weil wir immer mit dem Krankenhauspersonal fahren würden, welches Kinder wiegt und Babynahrung verteilt. So sind die potentiellen Patienten gleich vor Ort, weil der Termin bekannt ist und gleichzeitig würde sich herumsprechen, dass deutsche Zahnärzte da sind.
An der Umsetzung hat es dann allerdings doch meist gehapert, weil niemand wusste, dass wir unterwegs sind. Überwiegend waren die Schulen unsere Anlaufstellen, um unser Equipment aufzubauen. Um unserer Arbeit nachgehen zu können, benötigen wir Wechselstrom und den gibt es in den Schulen, unserem zentralen Ausgangspunkt. Außerdem erreichen wir so viele Menschen auf kurzem Weg, da die Kinder ihren Eltern erzählen, dass Zahnärzte vor Ort sind, die kostenlos behandeln. Diese erzählen es dann wiederum den Nachbarn usw...
Tarabuco hat ein Krankenhaus. Von außen sieht es auch ganz nett aus, allerdings wenn man es von innen gesehen hat, möchte man lieber nicht krank werden. Das Gesundheitssystem in Bolivien ist eher schwierig zu durchblicken, denn nur Schwangere, Kinder unter 5 Jahren und alte Menschen sind krankenversichert und können zum Zahnarzt gehen. Alle anderen müssen privat zahlen und auch hier ist nicht immer alles so günstig.
Mit unserer eigentlichen Arbeit konnten wir erst am Dienstag beginnen, 2 Tage in der kleinen Schule von Jumbate, in der mehrere Jahrgangsstufen, jeweils zu 2 Klassen, zusammengefasst werden. Zu unseren Einsatzorten wurden wir mit der "Ambulancia" gebracht, einem großen Toyota, der viel Platz bietet und sich nicht von den unebenen Straßen beeindrucken lässt.
Wir waren in einem feuchten, schmutzigen und dunklen Raum untergebracht, der normalerweise als Kindergarten dient. Am 1. Tag ging die Sicherung vom Ultraschallgerät kaputt und am 2. Tag brannten uns die Sicherungen der Absaugung durch. In den ländlichen Gegenden ist der Strom nicht besonders gleichmäßig und ohne Stabilisator machen das die Geräte und Akkus nicht lange mit.
Leider haben sich am Dienstagvormittag bereits meine Vermutungen zur Mundgesundheit bewahrheitet, und ich musste meinen Eindruck der vergangenen Woche korrigieren. Allein am Vormittag haben wie mehr Zähne gezogen als in der kompletten Woche zuvor!
Die Kinder besitzen größtenteils gar keine Zahnbürste und wissen auch nicht viel damit anzufangen. Dementsprechend sehen auch ihre Zähne aus.
Der Bolivianer an sich ist nicht immer ein einfacher Patient. Beispielsweise kam ein Mann, der wollte, dass wir ihn mit seiner Coca- Backe behandeln. Als ich die ersten Coca-Wangen sah, dachte ich zunächst an einen schlimmen Abszess. Aber das ist hier völlig normal. Wir erklärten dem besagten Patienten, dass das nicht möglich sei, und so wollte er später wiederkommen. Das tat er dann auch und fing an mit uns zu diskutieren, dass man seine Zähne, die zweifelsohne extraktionswürdig waren, doch noch füllen könne. 
Dies ist eine sehr häufige Diskussion, die man mit Bolivianern führt, die in ihrem ganzen Leben noch nie eine Zahnbürste ihr Eigen nennen konnten.
Den Donnerstag und Freitag unserer 1. Woche in Tarabuco sollten wir in "Pisili" verbringen. Wenn ich eins gelernt habe in den vergangenen Wochen in Bolivien ist es, dass es erstens anders kommt und zweitens als man denkt. Da die Lehrer aus Pisili eine Fortbildung hatten, die sogar bei uns im Hostel stattfand, fiel die Schule aus. Das wusste natürlich niemand zuvor und schon gar nicht Alberto.
So kam es, dass wir spontan nach "Lajas" gefahren sind. Die Comunidad, die uns eigentlich erst am folgenden Montag erwartet hätte. Dementsprechend wusste niemand, dass wir da sind und zunächst war auch nicht klar, ob wir bleiben konnten. Da Lajas eine recht große Schule hat, haben wir dort gleich 4 Tage gearbeitet. 
Unser Behandlungszimmer hatte zwar eine Tür, nur leider keine Klinke und so mussten wir uns stets mit einem Messer behelfen. Auf dem Schulhof leistete uns meist ein Muli (eine Mischung zwischen Pferd und Esel) Gesellschaft bei unserer Arbeit.
Lajas´ Kinder waren sehr nett und vor allem neugierig. Sie hingen pausenlos vor den Fenstern, um uns bei der Arbeit zu zusehen. Jetzt weiß ich auch, wie sich Tiere im Zoo fühlen! Aber auf der anderen Seite muss man auch einfach gestehen, dass die Kinder in ihrem Leben noch nie einen Zahnarzt bei seiner Arbeit gesehen haben. Unsere kleinen Patienten waren wirklich tapfer und sehr verantwortungsbewusst. Wir konnten uns in der Regel darauf verlassen, dass sie wieder kamen, wenn wir sie darum gebeten hatten. Das ist besonders zu betonen, weil es ist in Südamerika nicht selbstverständlich ist!
In der zweiten Tarabuko-Woche waren wir von Mittwoch bis Freitag in Puka Puka. 
Der Ort verdankt seinen Namen der durch Eisen rötlich gefärbten Erde, denn puka bedeutet auf Quechua „rot“. Auch hier war es am Morgen nicht sicher, ob wir überhaupt aufbauen können, weil mal wieder niemand Bescheid wusste, dass wir im Anmarsch waren. Die Schüler dort waren sehr frech, was unsere Arbeit nicht wirklich erleichterte. Abgesehen davon hatten wir zunächst wenige Patienten. Die gesellschaftlichen Strukturen auf dem Land sind für uns nicht immer durchsichtig und machten es nicht unbedingt einfacher.
Ein weiteres Problem in den ländlichen Regionen ist die Kommunikation mit den Patienten. Viele Erwachsene, vor allem Ältere, sprechen kein Spanisch. Die Kinder lernen es erst in der Schule. Ihre Muttersprache ist Quechua, die Sprache der indigenen Bevölkerung und dort noch weit verbreitet. Oft mussten wir einen anderen Patienten bitten, für uns zu übersetzen.
Die komplette 4. Arbeitswoche waren wir in Tarabuco im Hostel. Es lief nur schleppend an, Montagvormittag hatten wir nur 1 Patienten. Auch hier lag es wieder an mangelnder Werbung für unsere Arbeit. Alberto hatte zwar zwei Tage zuvor lieblose Zettel ausgehängt, aber es brauchte seine Zeit, bis das Ganze ins Rollen kam, doch dann lief es wirklich gut. Zum Teil waren es so viele Leute, dass sie bereits von morgens 9.00 bis abends warteten und trotzdem nicht drankamen.
Der Bedarf ist jedem Fall da, aber nicht jeder möchte unser Angebot annehmen. Dies ist nicht immer leicht, wenn man die Notwenigkeit einer Behandlung sieht und der Patient  uneinsichtig ist. Das kommt immer wieder vor, und irgendwann muss man akzeptieren, dass nicht jeder Patient sein Bestes will.
Olga ist zehn Jahre alt und wohnt ein paar Häuser neben dem Hostel. Sie ist die Dritte von sieben Kindern, ihre jüngste Schwester Nelly ist erst wenige Monate alt. Man berichtete uns, dass sie lange keinen Namen bekommen hatte. Die Eltern arbeiten beide nicht und wussten nicht, ob sie ein zusätzliches Kind ernähren können. Sie wollten die Kleine erst nicht am Leben lassen. Letztendlich haben sie sich aber doch dazu entschlossen, ihr einen Namen zu geben und somit ist ihr Leben vorerst gesichert. Olga kam oft mit ihren kleineren Geschwistern Javier und Carla. Sie ist sehr mütterlich und wollte, dass ihre Geschwister behandelt werden. Allen hat sie stolz ihren "neuen Zahn" gezeigt, der eine Frontzahnfüllung bekommen hatte. Obwohl die Kinder auf den ersten Blick dreckig und verwahrlost erschienen, sind sie allesamt sehr herzlich und scheinen auf ihre Art und Weise glücklich. 
Ich habe auch ein junges Ehepaar behandelt, er gerade 19 Jahre, sie ein Jahr jünger, mit  Baby. Für uns erscheint dieses Lebensmodell fremd, aber dort ist es normal!
Die Bolivianer sind nicht sonderlich gut darin „Danke“ zu sagen. Manchmal wäre genau das, nach einer anstrengenden Behandlung, der richtige Lohn gewesen!
Das absolute Highlight und auch das Einzige in Tarabuco ist der Sonntagsmarkt. An sich bekommt man hier die gleichen Artikel wie in jedem Souvenirladen in Sucre. Aber er erweckt alles zum Leben. Es öffnen Läden, von denen man gar nicht wusste dass es sie gibt, weil die Türen stets verschlossen waren. Das Schöne an diesem Markt ist das Flair. Überall laufen Menschen in ihren Trachten herum und sie tragen sie nicht für die Touristen, sondern aus Überzeugung.
Unsere Zeit in Tarabuco war nicht immer einfach. Die Leute sind nicht sonderlich zugänglich. Außerdem haben  wir uns alle auf  ein Stückchen mehr Zivilisation, wärmeres Wetter und die heiße Dusche in Sucre gefreut.
Unsere letzte Woche haben wir in Sucre in zwei Sozial-Einrichtungen verbracht:
Am Montag waren wir für einen Tag im "Hogar Guadalupe", es war kein einfacher Tag. Dort leben Mädchen im Alter von 13-15 Jahren, die niemand mehr so richtig haben will. Sie sind aus sehr unterschiedlichen Gründen dort. Die einen sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten und haben eine Art Arrest zu leisten, andere gelten als schwer erziehbar. Einige Mädchen sind schwanger oder haben bereits ein Kind. Oft wissen sie nicht, wer der Vater ist oder wollen es nicht sagen, weil sie vergewaltigt worden sind oder es ein Inzest- Fall ist. Familiärer Missbrauch, auch sexueller Art, ist hier leider keine Seltenheit und natürlich sind im Hogar auch Mädchen untergebracht, die kein Zuhause haben und sonst auf der Straße leben würden. 
Die Regeln sind sehr streng und nur wenige dürfen die Einrichtung verlassen. Unser Arbeitstag dort war sehr anstrengend, weil die Mädchen sich angestellt haben. Aber wer weiß, was diese Kinder in ihrem Leben schon durchmachen mussten.
Von Dienstag bis Freitag waren wir in der Schule in „Alegria“, ein Stadtteil am Rand von Sucre. Mit 520 Schülern eine recht große Schule. Das liegt zum einen an der Größe des Einzugsgebietes (einige Schüler haben einen Schulweg von 2 Stunden Fußmarsch) und zum anderen daran, dass Familien mit 10 Kindern keine Seltenheit sind. Alegria ist schon sehr ländlich und es laufen dort viele agressive Hunde herum. Man sollte zur Sicherheit immer einen Stein in der Hand haben.
Unser Consultorio hatten wir im „rosa Büro“ des Direktors, in dem gleichzeitig Lehrerkonferenzen stattfanden.
Der Weg dorthin war schwierig. Die Busse fahren von ziemlich versteckten Punkten ab. Ein Taxifahrer behauptete, er würde den Weg kennen, am Ende haben wir eine ausgedehnte Stadtrundfahrt gemacht, waren aber trotzdem nicht an unserem Ziel.
Am letzten Arbeitstag konnten wir für gut 1,5 Stunden nicht behandeln, da wir nicht genügend Strom für unsere Maschinen hatten. Lediglich das Licht ging. Am Abend zuvor gab es ein schweres Gewitter und der ganze Stadtteil hatte wenig Strom. Glücklicherweise normalisierte sich das ganze schnell wieder und wir konnten unserer Arbeit wie gewohnt nachgehen.
Freitag war "El día del niño" (Tag des Kindes), ein großes Durcheinander mit vielen Spielen für die Kinder. Die Schüler haben sich bei uns bedankt und den Wunsch geäußert, wir mögen doch bald wiederkommen.
Zum Abschluss bleibt zu sagen, dass ich eine wirklich tolle Zeit hatte, an der ich gewachsen bin und viele tolle Erfahrungen in jeder Hinsicht machen durfte. Nicht immer war es einfach. Man darf nicht zu große Erwartungen haben, den Bolivianern Verständnis für gesunde Zähne zu vermitteln. Aber wir konnten vielen, die es wollten, helfen, ihre Zahnschmerzen loszuwerden.
Natürlich fahre ich mit einem Koffer voller wertvoller fachlicher Erkenntnisse nach Hause, weil ich viel von zwei sehr erfahrenen Kollegen lernen durfte, aber noch mehr habe ich meinen Horizont erweitert durch das was ich gesehen und erlebt habe. 
Diese Zeit erdet und der Blick für das Wesentliche wird geschärft.
Und ganz wichtig ist: Man lernt, dass es erstens anders kommt und zweitens als man denkt.
Janina Kues, April 2014
                         


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