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Schulz, Linus

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Huancarani, 22. Oktober - 03. Dezember 2021
Über meine Studienkollegin Jeanette, der ich im Nachhinein überaus dankbar dafür bin, erfuhr ich Anfang Oktober glücklicherweise vom FCSM. Kurzfristig war für die Wiederaufnahme des Projektes Huancarani in Bolivien eine Stelle für einen Jungapprobierten frei geworden. Da ich das Staatsexamen hinter mir hatte, unbedingt einmal nach Südamerika wollte und nur gutes von Bolivien gehört hatte, vor allem aber große Lust auf eine Auslandsfamulatur hatte, war für mich schnell klar, dass ich die Gelegenheit nutzen wollte. Der Flug wurde gebucht und plötzlich waren es nur noch drei Wochen, bis ich Deutschland für zwei Monate verlassen würde!
Am Mittwoch, den 21. Oktober war es dann so weit, beim Zwischenstopp in Madrid lernte ich Ekkehard persönlich kennen und nach einem für uns beide etwas unangenehmem Flug erreichten wir leicht gerädert Cochabamba. Dass wir einige Tage vor Arbeitsbeginn ankamen war kein Zufall. Es gab einiges vorzubereiten, einzurichten, und zu erklären. Röntgenfilme von Hand entwickeln zählte beispielsweise nicht zum Lehrplan an der Universität Leipzig. Von der Ausstattung im Consultorio Dental war ich sehr beeindruckt. Ein voll ausgestattetes Behandlungszimmer, ein Endo-Reziprok Motor, sogar eine eigens für das Projekt programmierte Computersoftware sowie ein zweites "Prophylaxe" Zimmer hatte ich nicht erwartet.
Wir lernten außerdem Doña Adela und ihre liebevolle Familie kennen, sowie die zwei Hunde Otis und Rocky und die drei Katzen Findus, Cookie und Rosita. Samstag kam schließlich auch mein Arbeitskollege für die kommenden drei Wochen an. Schnell war klar, dass Heinz-Michael und ich uns gut verstehen würden und uns ereignisreiche Wochen bevorstünden. Da seit mehreren Wochen keine Zahnärzt:innen vor Ort waren, hatte sich eine Reihe an Menschen gesammelt, die regelmäßig auf Doña Adelas Handy anriefen, um sich nach unserer Ankunft zu erkundigen.
So kam es, dass wir vom ersten Arbeitstag an fast ununterbrochen Patient:innen im Wartezimmer hatten und voll ausgelastet waren (außer bei Regen, da blieb die Praxis meist leer).
Schnell stellte sich ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis zwischen Heinz-Michael und mir ein. Für das Arbeitsmodell in dem wir uns immer abwechselten, bin ich sehr dankbar. Innerhalb kürzester Zeit konnte vor allem ich so das erste mal den praktischen Alltag in einer Praxis als Behandelnder erleben und umsetzen.
Die Aufgabenbereiche und Möglichkeiten unterscheiden sich vor Ort natürlich sehr zu denen in Deutschland. Da wir leider keine:n Techniker:in zur Verfügung hatten, mussten wir anfangs viele Leute wegschicken, die mit dem Wunsch nach einer "Placa" (=Prothese) ankamen. Lediglich kleine Reparaturen oder Unterfütterungen konnten wir ausnahmsweise umsetzen. Zu den routinemäßigen Behandlungen zählten so vor allem Extraktionen tief zerstörter Zähne und Wurzelreste, auffällig viele okklusale Füllungen (überraschenderweise sehr wenig Aproximalkaries!), Fissurenversiegelungen und Reinigungen, aber auch die ein oder andere Wurzelkanalbehandlung.
Wir mussten allerdings auch anerkennen, dass wir durch die Bedingungen vor Ort an unsere Grenzen des Möglichen kamen. Ausgiebige Osteotomien oder schwierige Extraktionen können bspw. durch die schwache Absaugung und die begrenzte Kraft der Turbine beim Kronendurchtrennen, sehr nervenaufreibend werden.
Auch wenn es sich nicht immer als einfach gestaltete, kam man doch immer zu einer Lösung. Man lernt unter diesen Umständen auf alle Fälle, für jegliche Situationen gewappnet zu sein.
Das erste gemeinsame Wochenende verbrachten wir in Cochabamba und erkundigten die Stadt.
Das darauffolgende Wochenende fuhr ich nach Villa Tunari um mir dort den Dschungel und die Parks anzusehen. Heinz-Michael blieb leicht angeschlagen in Sipe Sipe und erkundigte die Gegend (Incaracay..). Nach drei Wochen war die Zeit für Heinz-Michael dann gekommen, ins kalte, von Corona gezeichnete Deutschland zurückzukehren.
Auch mit den Neuankömmlingen Elfi und Hans kam ich von Beginn an sehr gut zurecht. Da natürlich jeder Behandelnde seine eigenen Erfahrungen und Wege hat, war es für mich von großem Vorteil innerhalb kurzer Zeit von drei erfahrenen Behandelnden lernen zu dürfen. So kam es, dass ich von Heinz-Michael durch seine Erfahrungen aus der Uniklinik oralchirurgisch einiges mitnehmen durfte, Elfi mir die Kinderzahnmedizin näher bringen konnte und ich von Hans u.a. viel über Wurzelkanalfüllungen lernte. Alles drei Gebiete, in denen man in der universitären Ausbildung nicht groß praktisch aktiv werden kann.
Außerdem ergab es sich, dass wir von nun an einen Auszubildenden in der Praxis hatten. Da Doña Adelas Sohn Wilfredo aktuell keinen Job hatte entschieden wir ihn zu fragen, ob er Lust habe uns im Consultorio zu unterstützen. Nachdem er dieses Jahr das zweite mal an der Bandscheibe operiert wurde, hatte die Familie außerdem große Schulden. Er hatte Lust und war von nun an eine große Hilfe. Er arbeitete sich sehr schnell ein, verstand viele Dinge umgehend, konnte uns vor allem sprachlich und bei der Organisation mit der Aufnahme der Patient:innen unterstützen.
Plötzlich waren wir also zu viert und um dies bestmöglich auszunutzen, baute ich an einem freien Vormittag mit Hans das Prophylaxe Zimmer um. Wir verbesserten die Lichtverhältnisse, räumten den Tisch ein mit den meistbenötigten Instrumenten und Materialien, reparierten die externe Absaugung und räumten sämtliche Endo-Materialen auf. Von nun konnten wir auf zwei Zimmern unabhängig voneinander behandeln und im zweiten Zimmer auch problemlos Füllungen, Extraktionen und Wurzelkanalbehandlungen durchführen. Das erleichterte es uns in den kommenden Tagen sehr mit dem Ansturm an Patient:innen klarzukommen. Teilweise hatten wir in der zweiten Woche 42 Patient:innen am Tag. Viele kamen wieder weil zu viel Behandlungsbedarf für eine Sitzung bestand und brachten direkt die ganze Familie mit. Das Wartezimmer glich so zwischenzeitlich einer Kindertagesstätte.
Auch die drei Wochen mit den Ortinaus vergingen dann plötzlich ganz schnell.
Die Wochenenden nutzte ich für Trips nach Toro Toro und an den Salar de Uyuni. Beides sehr zu empfehlen. Ein großes Highlight war mein Geburtstag am 15. November. Ich hatte für diesen Tag ehrlich gesagt keine großen Vorstellungen oder Hoffnungen und wurde sehr überrascht. Es gab Geschenke, Torten und extra ein Barbecue zum Mittagessen. Ich kann es wirklich jedem empfehlen mal einen Geburtstag auf bolivianische Weise zu feiern!
 
In meiner letzten Arbeitswoche kam dann auch schon Jeanette an, mit der ich ein Semester in Leipzig die Behandlungseinheit teilen durfte. Dank ihr war ich schlussendlich ja in Bolivien gelandet und so war ihre Ankunft uns allen eine große Freude! Da sie keine großen Probleme mit dem Jetlag hatte, waren wir ab Dienstag nun sogar zu viert plus Wilfredo. Dass ich Jeanette noch einarbeiten konnte und wir noch ein paar Tage gemeinsam behandelten, u.a. ihren ersten Weisheitszahn gemeinsam zogen, war sehr cool!
 
Freitag war dann der Tag des Abschieds gekommen. Es fiel mir wirklich nicht leicht, diesen Ort der zu einem Zuhause geworden war, und diese Menschen, die zu einer Familie geworden waren, zu verlassen. Ich hatte wahnsinnig lehrreiche sechs Wochen und habe mich zu jeder Zeit wohlgefühlt in Huancarani. Eines Tages zurückzukehren ist mein großer Wunsch!
 
Zwei weitere Wochen hatte ich nun, in denen ich noch etwas rumreisen konnte. Ich habe lange überlegt, das Land nochmal zu verlassen und eventuell Peru oder Ecuador zu erkunden. Schlussendlich habe ich mich aber doch dafür entschieden in Bolivien zu bleiben, um die Gegend um La Paz und La Paz selbst kennenzulernen. Es ging also als erstes an die Copacabana, wo ich zwei Tage auf der Isla del Sol genoss. Anschließend verbrachte ich ein verlängertes Wochenende in La Paz. Da Jeanette und Carolin das Wochenende ebenfalls in La Paz waren, ergab es sich, dass wir Sonntags gemeinsam die Death Road mit dem Mountainbike runterdüsten. Definitiv eines der Highlights meiner Bolivien Reise.
Nach zwei weiteren Nächten in Coroico in einer Eco Lodge (Hostal Sol y Luna - sehr zu empfehlen), ging es dann Donnerstag Nacht zurück nach Cochabamba. Hier würde ich meine Freunde ein letztes Mal treffen, mein zweites Gepäckstück einsammeln, dass ich deponiert hatte und schließlich Samstag früh Richtung Deutschland aufbrechen.
 
Zwei ereignisreiche Monate in Bolivien gehen damit zu Ende und ich bin überaus dankbar für die Eindrücke und Erlebnisse!
Linus Schulz
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